| Gutmenschen  – eine WortbetrachtungVon Klaus Buschendorf Ein seltsames Wort – in meiner  Kindheit habe ich es nie gehört, damals in den fünfziger Jahren des vorigen  Jahrhunderts. Von „guten Menschen“ war die Rede, welche Eigenschaften sie  haben, oder haben sollten. Aber „Gutmenschen“? Es wird abfällig gebraucht. In  den Medien hört und liest man es kaum. In Gesprächen werden oft Abwesende mit  diesem Wort bezeichnet, die zu schwach, zu naiv, zu „gutgläubig“ seien, sich im  Lebenskampf einen Platz weiter oben zu erobern. „... zu gut für diese Welt ...“  – Ja, ist unsere Welt denn schlecht, dass „gut sein“ verwerfbar ist? Über „gute Menschen“ habe ich  klare Vorstellungen. Der Begriff wurde mir gelehrt von Eltern, Schule und  Büchern. Ich hörte ihn oft und las ihn viel. Gute Menschen waren hilfreich zu  ihren Nachbarn und Kollegen, suchten und fanden Freunde. Sie strebten nach  einem Sinn in ihrem Leben. Dieser war niemals auf sich selbst gerichtet, immer  verbanden sie eigenen Nutzen mit der Hilfe für Andere und dem Bestreben, ihnen  keinesfalls zu schaden. „Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme sind die  Grundregeln im Straßenverkehr.“ Das lernte ich als Paragraf Eins in der ersten  Fahrschulstunde und der Fahrlehrer wurde nicht müde, das als die größte  Normalität zu bezeichnen. So sollte man schließlich seine ganze Lebensführung  und nicht nur sein Verhalten im Straßenverkehr einrichten. Ergänzt wurde solche  Erziehung zur Rücksichtnahme durch Sprichwörter: „Mit dem Hute in der Hand,  kommt man durch das ganze Land.“  Jugendlicher Widerspruchsgeist,  bemüht, Grenzen auszuloten, ließ uns dem augenzwinkernd begegnen, mit:  „Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.“ Folgerichtig  drängelte sich meine Schulklasse auf dem Annaberger Marktplatz in die hintersten  Sitzreihen des damals modernen ungarischen Ikarusbusses. Da konnte man nicht  mehr aufstehen, wenn ältere Fahrgäste zustiegen und selbstverständlich Anspruch  auf Sitzplätze erhoben. Es war einfach zu eng dafür, um dieser Höflichkeit  nachzukommen. Das ging so lange gut, bis ein Lehrer unsere Gewohnheit  begutachtete. Er muss wohl einen Tipp bekommen haben, sonst sahen wir ihn nie  an jener Haltestelle. Er sah also unserem Treiben zu – und holte uns alle  wieder aus dem Bus. Mit dem Einsteigen zu warten, befahl er uns und ließ erst  wieder einsteigen, als die letzten Reihen besetzt waren. Für den heutigen Leser  mag das Erstaunlichste daran sein, dass wir Kinder zwar mit Murren, aber alle  seine Weisung befolgten! Man bedenke: außerhalb der Schule! Wir beschwerten uns  auch nicht bei unseren Eltern über seine „Kompetenzüberschreitung“! Eher hätten  wir wohl eine Ohrfeige für unser „freches Betragen“ eingesteckt, als Recht von  unseren Eltern zu bekommen. Nie wäre unseren Eltern eingefallen, einen  Rechtsanwalt gegen einen Lehrer zu bemühen – der Lehrer war ihr Verbündeter bei  unserer Erziehung, genau wie der Polizist auf der Straße und der Pfarrer in der  Kirche.  Wir Kinder fanden uns stets einer  Gemeinschaft gegenüber, die uns „erziehen“ wollte. Wir rebellierten oft, loteten  Grenzen aus, erkannten aber auch die dahinter stehende Sorge, uns zu „guten  Menschen“ zu erziehen. Mit der Zeit verstanden wir den Zusammenhang und am Ende  meiner Grundschulzeit in der achten Klasse zeigte uns ein Lehrer auf einem  Schulausflug in einem alten Gasthaus, eingebrannt in umlaufende Holzbohlen, den  Spruch: „Ein Mann ohne Pflicht, ein Wicht. Ein Mann ohne Recht, ein Knecht. Ein  Mann mit Pflichten und Rechten – einer von den echten.“ Gemeinschaftssinn,  Pflichterfüllung, kein Wicht sein, einer von den Echten – ertranken wir in  Harmonie? Oh, nein, wir haben gerauft und um die Rangfolge in der Klasse  gekämpft – doch nach Regeln: Die Gürtellinie war heilig und von einem besiegten  Gegner ließ man ab. Wir spielten Fußball bis zur Erschöpfung, stritten über ein  Tor (einen Schiedsrichter hatten wir ja nie) – und es kam dann vor, dass der  Torschütze im Streit sagte: „... war keins, ich habe geschummelt!“ Nicht oft,  natürlich, und mancher raunte ihm auch ins Ohr: „... hättest doch nichts sagen  brauchen ...“ – „... bin lieber ehrlich, macht mehr Spaß“, konnte die Antwort  gewesen sein.  Und heute: „Gutmenschen“,  bedauernswert, dem Leben nicht gewachsen in einer Zeit, wo die „individuelle  Selbstverwirklichung“ über allem zu stehen scheint, über Gemeinschaftssinn,  Hilfsbereitschaft und Verständnis für andere Menschen? Wann geschah der Umschwung vom  „guten Menschen“ als erstrebenswertes Erziehungsziel zum „Gutmenschen“, dem  bedauernswerten Naivling? Ein Fußballspiel, eine Weltmeisterschaft schleicht  sich da in meine Erinnerung. In England spielten Portugal und England  miteinander, Fans werden wissen, wann das geschah. In unserer Betrachtung ist  das so wenig wichtig, wie das Ergebnis. Zufällig war ich in die Übertragung  gerutscht und staunte über die Fairness. „Jetzt achte ich auf die Zeit bis zum  nächsten Foul“, sagte ich zu meiner Frau und musste einundzwanzig Minuten  warten. Nie wieder habe ich ein solches faires Fußballspiel gesehen. „Ehrlich  zu gewinnen, macht mehr Spaß“, hatte mein Schulkamerad damals beim strittigen  Tor ergänzt.  Ein Spiel lebt von seinen Regeln.  Weicht man sie auf, verliert es an Schönheit, an Freude am Erfolg. Nur das  Spiel? In unserer Gesellschaft nehmen  Krankheiten zu, die gab es früher kaum. „Bourn-out-Syndrom”, Depressionen wegen  „Mobbing”, Versagensängste ... Sie sind von Menschen gemacht bei anderen  Menschen. Ihre Heilmittel sind nicht Psychopharmaka, sondern Rücksicht,  Hilfsbereitschaft, Gemeinschaftssinn. Sie basieren auf Regeln, auf Pflichten. Wir sollten uns erinnern, dass Regeln  im Umgang untereinander, im Staat und zwischen Völkern, nicht Freiheit  beeinträchtigen, sondern erst ermöglichen. Denn: Was nützt mir eine regellose  „freie Marktwirtschaft“, wenn ich mich vor lauter Kriminalität abends kaum noch  auf die Straße traue?Das Wort „Gutmensch“ sollte als Schimpfwort verschwinden. Es sollte  wieder zum erstrebenswerten „guten Menschen“ werden! |