| Zu einem gewissen Jahrestag  am 10. Dezember: 
 Von Wolkenkuckucksheimen und anderen RealitätenGlosse von Holdger Platta ©
 Vorsicht! Wer die folgenden Sätze für einen Text aus dem Wolkenkuckucksheim  hält, könnte sich irren und sollte auch die Sätze nach diesen folgenden Sätzen  noch hören. Vielleicht wird er verblüfft sein. Oder auch nicht. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten  geboren. Jeder Mensch hat ein Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl sowie auf  Schutz gegen Arbeitslosigkeit. Jeder Mensch hat Anspruch auf eine  Lebenshaltung, die Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet. Jeder Mensch hat  als Mitglied der Gesellschaft Recht auf soziale Sicherheit. Jeder Mensch hat  das Recht, am kulturellen Leben teilzunehmen. Jeder Mensch hat Anspruch auf  eine soziale und internationale Ordnung, in der die Grundrechte voll  verwirklicht werden können. Soll man diesen Sätzen nun doch noch ein „Amen“ anfügen? Denn  mehr als „frommer“ Wunsch, mehr als „Sonntagspredigt“, scheint das alles ja  nicht zu sein. Oder? Nun, ich habe hier aus einem Text zitiert, auf den sich am  10. Dezember 1948 über fünfzig Nationen der damaligen Staatenwelt geeinigt  haben. Sechs Sätze aus einem Text, dem sich heute 171 Staaten auf dieser Welt –  angeblich - verpflichtet sehen. Es handelt sich um Auszüge aus der „Allgemeinen  Erklärung der Menschenrechte“, wie sie vor rund sechzig Jahren von der  Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York einstimmig verabschiedet  worden ist. Und die Welt ist eine Scheibe? Den meisten Leserinnen und Lesern dieser Zeilen muß ich diese  Erklärung wohl nicht erklären. Ihnen muß ich nicht erklären, daß die Welt nach  wie vor meilenweit davon entfernt ist, die eigene „Sonntagspredigt“, die eigene  Sammlung „frommer Wünsche“, in Handeln und soziale Realität ungesetzt zu haben.  Das gilt auch für die Bundesrepublik, die seit 1973 Mitglied der Vereinten  Nationen ist. Und dennoch sind auch diese Sätze Realität: geschriebene Realität, wenn auch nicht realisierte geschriebene Realität. „Gleich an Würde“ leben Millionen von Menschen in der  Bundesrepublik nicht. Von „sozialer Sicherheit“ kann für Millionen Menschen in  der Bundesrepublik keine Rede sein. Von einem „Recht auf Arbeit“, von „freier  Berufswahl“ und „Schutz vor Arbeitslosigkeit“ ebensowenig. „Lebenshaltung, die  Gesundheit und Wohlbefinden gewährleistet“, ist für Millionen von Menschen in  der Bundesrepublik ein Wunschtraum, sonst nichts, ebenfalls die  uneingeschränkte „Teilnahme am kulturellen Leben“ sowie eine „soziale Ordnung“,  in welcher deren „Grundrechte voll verwirklicht werden können“. Die reale  Verfassung der Bundesrepublik ist meilenweit entfernt von der geschriebenen  Verfassung, wie sie sich die Generalversammlung der Vereinten Nationen im  Dezember 1948 auf ihre Fahnen geschrieben hat. Kurz:
 Für Millionen von Menschen in der Bundesrepublik sind diese  edlen Sätze tatsächlich nur „Wolkenkuckucksheim“, nicht aber das Haus, in dem  sie tatsächlich leben und wohnen können. Dieses Wolkenkuckucksheim ist  lediglich das komfortable Haus für die Begüterten in unserer Gesellschaft. Für  die anderen aber – für die Arbeitslosen und Niedriglöhner, für Millionen  Rentner und Millionen Kinder – bietet die Bundesrepublik des Jahres 2008 diese  Heimstatt nicht. Gemessen an der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen  aus dem Jahre 1948 leben Millionen von Menschen in der Bundesrepublik 2008  sozusagen „unter freiem Himmel“. Man könnte es auch drastischer formulieren und  treffender: obdachlos! In einem kann die Aufgabe einer Demokratie nicht bestehen: in  der Aufgabe der Demokratie. Die Aufgabe einer Demokratie kann nur in einem  bestehen: in ihrer Realisierung. Das gilt nicht nur auf dem Papier, das gilt  auch für ihre sozialen Versprechungen. Alles andere wäre nur eine Demokratie, an der bereits der  Kuckuck klebt: bereits gepfändet und nicht mehr unser Eigentum! Diese Art von Demokratie wäre also  tatsächlich nur noch eines: ein Wolkenkuckucksheim.  Ein Wolkenkuckucksheim als Realität. |